Mittwoch, 15. März 2017

Berlinleben 020

Literaturzuhause

Hat die Literatur ein Zuhause, braucht sie eines oder ist sie in ihrer natürlichen Ortlosigkeit überall, wo gelesen wird Heimat der Leser?

Wo ich bin und lese oder schreibe ist Literatur, wozu also tief in den Westen fahren, ins Literaturhaus in der Fasanenstraße, wenn es Cafés genug in meiner Umgebung gibt, die zum Schreiben und verweilen einladen, was sollte ich unnötig Zeit mit der Reise quer durch die Stadt verbringen, noch dazu in den etwas vorgestrigen Stadtteil Charlottenburg?

So hatte ich mich gefragt, obwohl das Literaturhaus von einem auch Dichter geleitet wird, einen zauberhaften Garten hat, es lag doch etwas weit ab für mich. Einmal führte mich A meine längste Liebe dort hin, vermutlich nachdem wir im KaDeWe irgendwelche Lebensmittel kaufen waren, wie sie es so liebte.

Es war nett, der Garten schon schön, das Café halt ein gutes Café, der Buchladen im Untergeschoss eine Freude, es fand sich dort auch manch ausgefallen Schönes, was die Augen des Bücherliebhabers strahlen ließ. Doch es blieb mir fremd, nie wäre ich dort zum Schreiben hingefahren, dachte ich, bis ich eine zeitlang unter sehr unliterarischen Umständen in einem Hochhaus am Zoo in einem Callcenter arbeitete und mehr als erfolgreich Lose verkaufte.

Fremde Menschen anrufen und ihnen erzählen, sie bräuchten unbedingt etwas, dass kein Mensch je braucht, um ihre Chance auf einen Millionengewinn zu nutzen, die stark übertrieben wurde, war meine dortige Berufung. Die einzige Ausrede war noch, die Klassenlotterien waren ja staatlich und also musste es doch eine gute Sache sein, zumal Überschüsse Zoos oder sozialen Institutionen zugute kam. So verteidigte ich es, der Zoos als Tierknast nicht ausstehen kann.

Konnte auch Glücksspiel noch nie leiden. War einmal mit meinem Großvater im Casino in Bremen und fand es öde, verstand die Faszination vieler Leute nicht, dort ihr Geld zu verwetten für die Hoffnung auf einen günstigen Zufall, der zu selten eintrat, den ich nicht vernünftig beeinflussen konnte. Vielleicht darum war ich in dem, was ich tat, so erfolgreich, verkaufte die größten Lose mit einer 100% Gewinngarantie, die doch dem Spieler bei einem kleinsten Gewinn von 1000,-Euro mit Sicherheit die  Kosten dieser teuersten Lose wieder einspielen würde und verschwieg dabei geflissentlich, dass es sich bei den 100% Gewinnlosen um 1/10 Lose handelt, der garantierte Gewinn also wesentlich weniger meist war.

Rang in dieser Zeit viel mit meinem Gewissen, weil ich einfach zu gut war, zu seriös auf die Menschen am Telefon wirkte, meine Glaubwürdigkeit im Auftreten nutzte, ihnen einen solchen Blödsinn für teures Geld zu verkaufen und dies auch bei Menschen tat, die ihr Geld eigentlich dringend für anderes bräuchten und denen ich nur schöne Hoffnungen mit verführerischer Stimme säuselte, der sie zu gern glaubten, denn welche ältere Dame freut sich nicht an der Vorstellung, dass ein so netter junger Mann ihr dann auch noch den Gewinn persönlich vorbeibringt, wenn sie bald Millionärin würde.

Irgendwann machte mich diese verlogene Tätigkeit krank, ich verdiente zwar so gut, wie nie zuvor im Leben, mehr als ich als Redakteur je bekam und dazu ließ ich mir noch die Prämien, mit denen die anderen gelockt wurden, barauszahlen - finanziell war es eine gelassene Zeit, ich hatte Geld, ich konnte alles verkaufen und wer so dumm ist, sich auf Glücksspiel zu verlassen, soll halt dafür zahlen, wie Millionen Idioten es jede Woche beim Lotto taten.

Trug mein Geld lieber in Buchläden, zunächst war ich vom Zoo aus einige male bei Hugendubel gewesen, doch dies Bücherkaufhaus war mir unsympathisch, zu groß, zu kühl und ich mochte kleine Buchläden. Da erinnerte ich mich des Café Wintergarten im Literaturhaus zu Berlin und des schönen Buchladens dort.

Zu Fuß vom Hochhaus am Zoo zur Fasanenstraße waren es keine zehn Minuten. Aus der tosenden, lärmenden Welt am Zoo tauchte ich in den Garten des Literaturhauses und fand einen Ort der Ruhe. Sobald ich mein Gewinnsoll erfüllt hatte, mehr als drei der ganz großen Lose am Tag zu verkaufen, wäre schon dreist, hatte ich den Durchschnitt in diesem Callcenter schon so weit hinter mir gelassen, dass mehr an Mühe überflüssig schien. Wenn ich Glück hatte war das noch am Vormittag, spätestens jedoch kurz nach Mittag am ganz frühen Nachmittag und dann verschwand ich, ohne weiter zu telefonieren aus dieser ungesunden Atmosphäre, rechnete nach, was ich wieder verdient hatte und freute mich darauf, was ich mir nun gönnen könnte.

Mehr brauchte es nicht zum Glück, dachte ich, als diesen Ort des Rückzugs und das auch wenn mir viele der Damen entweder zu alt oder zu geschminkt waren und ich mir noch nicht klugerweise überlegt hatte, mich auf wohlhabende Charlottenburger Witwen zu spezialisieren - liegt mir zugegeben auch heute noch eher fern, aber dies wäre zumindest der richtige Ort dafür. Die einzig wohlhabende Dame aus Charlottenburg, die ich sehr nah kennenlernte, hielt lieber ihren uralten Ex aus, der sie seit Jahrzehnten um mehr Geld betrog als ich in meinem Leben hatte, fand es befremdlich, dass mich das störte und war im übrigen eher kleinlich und ging ungern ins Café, weil sie keinen Alkohol trank ihrer Migräne wegen.

So sollte ich vielleicht doch noch mal in dieses wunderbare Café fahren, um auch endlich eine geistig aufgeschlossene Sponsorin zu finden, statt im armen Osten um Zonen-Gabis zu jammern, denn Geld hängt da sichtbar genug rum, leider fand ich armer Dichter dies noch nie anziehend und umgab mich lieber weiter mit gleichgesinnten, was ein naiver Fehler sein könnte, wie schon Villon meinte, von dem Brecht, der eitle Dieb und überschätzte Dichter der Proleten, den Text vom Wohlstand, in dem es sich so angenehm lebt, schamlos klaute.

Als schlichter Losverkäufer mit irgendwie einmal großbürgerlichen Hintergrund vor Generationen begab ich mich also in das wunderbare Café Wintergarten. Nie jedoch ohne zuvor, den Buchladen zu besuchen, den ich wiederum seltenst ohne irgendeine natürlich gebundene Neuerwerbung verließ. Viele der schönen Preußen Bücher des gebildeten Hugenotten Günter de Bruyn, Wiebke Bruhns, die Jünger Biografie - wandert mein Blick über meine kleine und bescheidene Bibliothek, sehe ich noch manden Band, den ich dort entdeckte - einige der schönsten Bildbände über Bibliotheken und Bücher, was fand ich nicht alles dort. Sicher gab es das alles auch bei Hugendubel, der aber lagen mitten im Lärm am Platz in einer eher grässlichen Ecke nicht in einem verzauberten Garten.

Sonderangebote bei Büchern haben ja auch ihren Reiz, wollte ich effektiv sein, kaufte ich nur aus großen Kisten auf Flohmärkten oder Antiquariaten, nähme alles mit, was viele Nachbarn um meinen Platz immer wieder aussortieren. Doch wollte ich nicht sparsam und effektiv sein, sondern großzügig, wie einst die Vorfahren, mir eben was gönnen und da die Buchpreisbindung gilt, ist ein so hässlicher Laden wie Hugendubel oder das Kaufhaus Dussmann schlicht überflüssig und Masse macht einen Laden nicht attraktiver, im Gegenteil. So habe ich auch in der Zeit, in der ich richtig viel Geld verdiente, nie Rücklagen gebildet, lieber meiner Liebsten schöne Strümpfe geschenkt, aus dem zauberhaften Wäscheladen direkt vor dem Literaturhaus, die sie nie trug, vermute immer noch, weil sie ihre Schenkel zu fett fand, als gäbe es etwas schöneres als eine Frau mit wohlgeformten Beinen, die nicht nur auf Mikadostäbchen durch die Welt stakst, sie zum Essen eingeladen, den Lebensunterhalt bestritten und mir so oft wie möglich Besuche im Café Wintergarten gegönnt und den Buchladen im Untergeschoss unterstützt.

Denke ich an meinen Großvater, der all sein vieles als Zahnarzt verdientes Geld auf der MS Europa oder in der Traube Tonbach mit meiner Großmutter zusammen durchbrachte, schüttelte ich einerseits den Kopf, andererseits freue ich mich darüber. Gespartes Geld und Rücklagen machen reich und unglücklich auf Dauer. Gelesene Bücher dagegen machten mich meist glücklicher, allein schon sie zu besitzen, erfüllte mich mit Stolz - wozu Geld in Hotels, idiotische Ferien und Reisen stecken, wenn ich es in Bücher investieren konnte oder einen wunderbaren Lesesessel?

Es gab sehr feine und interessante Menschen in diesem Café. Lernte etwa einen Apotheker kennen, der Witze sammelte und mir eines Tages voller Stolz seine schöne Visitenkarte aus feinstem Bütten noch geprägt, statt gedruckt überreichte. Wir wollten in Kontakt bleiben, plauderten einige male sehr nett und verloren uns doch wieder. Empfing dort Freunde und lernte einige neu kennen. Leider schrieb ich damals noch nicht dort, was eigentlich ideal gewesen wäre.

Mein Lieblingsplatz war einer der Tische im Erker, gerne setzte ich mich zu jemandem dazu - las meist in meinen schönen Neuerwerbunge und muss dabei vor Stolz geglänzt haben und konnte nie verstehen, wie jemand das große Glück eines neu gekauften Buches nicht zu würdigen wusste. Andere kauften sich CDs, Schuhe oder elektronischen Schnickschnack, der mich weniger interessierte. Konnte an schönsten Taschenuhren oder feinsten Lederschuhen vorbeigehen, mich an ihrer Schönheit erfreuen, ohne davon je zu träumen, sie besitzen zu wollen, bis zu tausend Euro oder mehr für ein Paar Schuhe auszugeben, schien mir völlig idiotisch, wenn ich für das übrige Geld noch Bücher kaufen könnte, kaufte ich lieber Mokassins bei Aldi.

Eine der Bedienungen mochte ich besonders. Sie ist vermutlich längst irgendwo Ärztin und war damals eine Studentin der Medizin mit langen dunklen Haaren, starken Augenbrauen und einem mehr als bezaubernden Lächeln. Hätte sie immer lieber an meinen Tisch gebeten, statt von ihr bedient zu werden, fand sie sehr jung aber mehr als schön. Nicht weil sie eine große Schönheit gewesen wäre - sie hatte etwas eigenes mit ihren starken Brauen und ihrer schlanken schönen Figur. Sehr harmonische Bewegungen und eine Höflichkeit, die nicht gespielt war, sondern für Familie sprach, wäre neugierig gewesen, zu erfahren, was hinter ihr steckte und wovon sie träumte. Sie arbeitete viel, neben dem immer sehr aufwändigen Medizinstudium und wenn ich sie in der U-Bahn traf, war sie immer konzentriert am Lernen, schien von nichts in ihrer Umgebung etwas zu registrieren und ich konnte sie auf langen Fahrten beobachten, ohne dass sie es bemerkt hätte, wie sie mir später sagte.

Sehr viel näher lernten wir uns aber nie kennenlernen, wie es meist beim netten Geplauder dort blieb und doch war es, von einigen Aufenthalten im Studium abgesehen, meine erste Zeit im Café und ich brachte viele Stunden dort entspannt lesend zu, den Blick in den schönen Garten, am liebsten im Erker, der aber da äußerst beliebt, natürlich oft schon besetzt war, auch wenn ich feststellte, dass die meisten dort diese wunderschöne Ecke, die den Blick durch das Café und in den Garten bot, ein erhobener Beobachtungsposten quasi war, kaum nutzten und einfach miteinander sprachen, als säßen sie dort nicht auf dem besten Platz das Geschehen vor Ort zu beobachten, wäre es nicht eine Pflicht für die dort, alles im blick zu haben und dies mit tiefen Blicken ausgiebig zu genießen.

Genoß es sehr, wenn ich nicht in meinen neuen Büchern schon versank aber auch dabei hoffte ich immer angesprochen zu werden, um ein wenig zum Thema zu plaudern. So hat dieses Café eine gewisse Leichtigkeit, auch wenn sich hier natürlich gelegentlich kleine Dramen abspielten, wenn Mann die Einkäufe der werten Gattin oder Geliebten nicht zu würdigen wusste oder ein Glas umfiel und sich über den neuen Kaschmir ergoß, was immer die echte Größe in der folgenden Gelassenheit offenbarte. Einige Damen plauderten scheinbar völlig belanglos über ihre Männer und nur dem genauen Zuhörer erschloss sich mit der Zeit, dass sie zwischen den Zeilen sich von ihren Liebhabern erzählten, ohne es je auszusprechen. Viele kamen nach dem obligatorischen Schoppen auf dem Ku’damm oder manche auch frisch aus dem neuen Botox to go Laden um die Ecke, was den Betreffenden immer schon am Gang anzusehen war, der sie ihre neue Schönheit voller Stolz präsentieren ließ. Sie sahen nichts außer sich und wer sie alles beobachtete, waren enttäuscht, wenn keiner schaute, was mich häufiger, da ich eben Flaneur manchmal als einziger beobachtete, in das Gespräch mit ihnen brachte.

Nach mehreren dieser inhaltslosen Plaudereien voller Klagelieder über die Vergänglichkeit verstand ich warum manche der Stammgäste beim Erscheinen dieser gebotoxten Damen so konzentriert den Blick senkten. Sie waren nicht nur kein schöner Anblick und auch diese ihre frische Entfaltung hob das fehlende Niveau selten, dass sie durch gut gefüllte Brieftaschen ersetzten. Kaum eine dieser Damen fragte je, was ich da lese, jede aber klagte über irgendwas auf sehr hohem Niveau, als sei diese Insel inmitten der tosenden Großstadt ein Sanatorium für reiche Gattinnen, die alles taten, damit sich ihre Gatten nicht mit jungen Mädchen ablenkten und damit meist erst den Grund dafür legten. Wie hoch die Silikondichte an manchen Tagen dort wohl war, fragte ich mich lieber nicht und freute mich lieber an der natürlichen jugendlichen Schönheit der Medizinstudentin, die manchmal, wenn es keiner sehen konnte, die Augen in meine Richtung verdrehte, wenn eine der Damen wieder zu jammern anfing oder sich über die vielen Kalorien beschwerte.

Solche Menschenstudien waren sehr interessant, eine völlig andere Welt als bei mir auf dem Berg, vor allem viele ältere Menschen und der Durchschnitt eher jenseits der fünfzig aber immer erfreut für den kleinen Flirt mit einem jungen Mittdreißiger aufgeschlossen, der aber dabei ohne jede weitere Absicht blieb - war doch, was mich Zuhause erwartete echter und reizvoller. Vermutlich glichen sich die Lebensläufe vieler der Damen hier, die sich beim Kaffee oder Tee - aber bitte ohne Zucker - war es ein relativ harmonisches Biotop von Menschen, die im Wohlstand leben, alles haben, es sich gut gehen lassen, davon aber angestrengt sind und darum beständig klagen, weil sie sonst zugeben müssten, wie gut es ihnen eigentlich geht.

Genoss ausgiebig, wie gut ich es hatte, hier nach dem Telefonieren im zu lauten Call-Center in Ruhe zu sitzen, mir Zeit zu nehmen, ein wenig zu träumen und machte den klagenden Damen lieber übertriebene Komplimente. Meist weniger ernsthaft, als um die Stimmung zu  heben und zu erfahren, wie sie auf positive Ansprache reagierten. Das Lob des Genusses und der Zeit, die wir uns hier nahmen, verwirrte viele von ihnen eher. Manche taten es als weltfremd und unerfahren ab, andere fragten, was ich mache, wenn ich nicht hier im Café die Stimmung genösse und einigen wenigen erzählte ich dann, was ich wenige hundert Meter von hier grässliches tat.

Die meisten wollten es nicht glauben, begannen über diese lästigen Anrufe zu klagen, die doch verboten gehörten oder fragten wie denn ein so gebildeter und höflicher Mann zu solch einer schrecklichen Arbeit käme. Antwortete dann meist wahrheitsgemäß, dass ich es des Geldes wegen täte, noch nie so viel verdient hätte, weil ich eben so seriös wirke, worauf das Thema meist im gemeinsamen Lachen endete und sie sagten, dass wäre natürlich etwas anderes, aber die meisten wären doch ganz unmöglich und furchtbar unhöflich, was ich nicht bestätigen konnte, wenn ich an die Kollegen dachte. Im Gegenteil als unhöflich offenbarten sich in der Regel eher viele Angerufene, aber manche erzählten mir daraufhin auch ganz vertraulich ihre Lebensgeschichte und ihr Leiden am Nichtstun.

Sie hätten ja so viel vorgehabt im Leben, dann hätten sie sich verliebt und geheiratet, Kinder bekommen, die wären ja nun auch schon groß und aus dem gröbsten raus - wobei ich mich immer fragte, was für diese Damen aus Dahlem, dem Grunewald, Schmargendorf oder Wilmersdorf das Gröbste wohl war. Und dieser ewige Stress mit der Einkauferei, jede Saison das gleiche Theater, sie könnten ja nicht mit den alten Sachen erscheinen, als Gattin von diesem oder jenen, hatten sie gewisse Pflichten, verstünde ich sicher. Gab mich verständnisvoll und fragte, wenn ich sie verwirren wollte, was sie denn glücklich machte, worauf meist ein langes Schweigen oder ein verlegenes zu lautes Lachen folgte.

Glaube diese armen, reichen Frauen litten wirklich mehr an sich und den vielen Aufgaben, die sich in ihrer von niemand gedankten großen sozialen Verantwortung aufluden als viele der arbeitslosen Künstlerinnen bei mir am Berg, die immer höchstens Sorge hatten, wie sie die nächste Miete zahlen sollten oder die Zeit zwischen zwei Engagements mit Hart IV überbrücken würden, ohne zu irgendwelchen schwachsinnigen Arbeiten, die ihre künstlerische Karriere gefährdeten, herangezogen zu werden. Es lebt sich wohl im Wohlstand recht angenehm, wie Villon einst dichtete, doch nur aus Sicht derer, die ihn nicht haben, denn die in ihm leiden mehr daran und an der Sorge um selbigen als jene ohne.

Wollte ich mit ihnen tauschen, fragte ich mich manchmal und wie würde es mich verändern, wenn ich mir Sorgen machen müsste, ob mein Gärtner oder mein Kindermädchen ordentlich arbeitet, meine Köchin sich wirklich an die für mich oder das Herz meines Gatten dringend nötige Diät hielt, ob mich nicht alle betrügen, Freunde nur kämen, weil sie was wollten oder bräuchten. Frei von solchen Sorgen, lebt es sich doch sehr angenehm - wenn ich auch ohne Botox Spitzen zum Elternabend gehen oder mich den Freunden meiner Tochter präsentieren kann. Keinen Ärger mit einem zu teuren Auto zu haben oder sich nicht um die Handwerker im Haus sorgen zu müssen, die meinen Wintergarten endlich abdichten, ob sie wirklich nichts gestohlen haben, weil doch so viele kostbare Dinge herumstehen, die diese ungeschickten Leute einfach aus Versehen mal beschädigen und du ihnen lieber keinen Vorwurf machst, damit sie ihre Arbeit noch halbwegs ordentlich erledigen. Auch die viel zu hohen Steuern, machten mir nicht wirklich große Sorgen. Was nach mir kommt oder mit meinem Erbe geschieht, interessiert mich nicht, weil ich dann nicht mehr bin und die Freiheit des Todes so groß ist, dass sie im nu von allem befreien kann, was für die meisten dieser vermögenden Damen aus manchmal alten wohlhabenden Familien unvorstellbar war.

Leben, um davon zu erzählen, nannte Gabriel Garcia Marquez seine Autobiografie und das lag mir, wurde mir im Gespräch mit diesen gesellschaftlich zumindest in ihrem engeren Kreis so bedeutenden Damen immer wieder bewusst, die sich ständig ihre Bedeutung im Wohlstand beweisen mussten. Durch Wohltaten ihre Größe und Güte noch in Konkurrenz zu  ihrer Umgebung beweisen mussten, permanent im Stress waren, richtig zu wirken und sich für diese Wirkung eben viel antaten, was sie eigentlich furchtbar fanden. Einige waren wirklich gebildet, kamen aus guten Familien, hatten eben eine sehr gute Partie gemacht und erfüllten nun ihre Pflicht als Gattin, was mehr war, als sich vorstellen kann, wer täglich mit Existenzsorgen zu kämpfen hat.

Es gibt an diesem wunderschönen Ort der Ruhe, dem traumhaften Garten in der wuseligen Großstadt seltsamerweise wenige Menschen, die genießen konnten und um ihr Glück wussten. Hörte in den kleinen Kneipen in denen die Künstler verkehren zwar auch manch traurige Geschichten mit, doch wenige sind so besorgt, ständig gestresst und immer unter Druck wie, die im Wohlstand leben. Fragte mich, was getan werden könnte, diese Menschen glücklich zu machen. Zuerst dachte ich, ihnen müsste nur gezeigt werden, wie gut es ihnen geht, damit sie es würdigen könnten. Dann würde ihnen vielleicht ein soziales Praktikum in asozialer Umgebung helfen, doch würde es nichts ändern, erhöhte nur ihren Stress - das auch noch, überforderte sie wirklich, weil zu der vorher schon Angst noch die käme, so zu enden.

Wer glücklich sein will, muss es wollen. Sie sind in ihrer Rolle unglücklich und wollen darin Anerkennung finden, darum leisten sie Dinge, die ihnen widerstreben, für ihre vermeintliche Schönheit und andere Äußerlichkeiten, erhöhen damit den Stress in einer Umgebung, die will, dass sie funktionieren. Ihnen zu sagen, wie glücklich sie sind, wie gut es ihnen geht, führt zum genauen Gegenteil. Ihnen eine Aufgabe oder eine Beschäftigung geben, die sich nicht wie Yoga oder Pilates nur mit ihnen beschäftigt, erhöhte ihre Versagensängste. Dennoch haben sich erstaunlich viele dieser Frauen auch für Flüchtlinge gerade engagiert und fühlten sich erfüllt dabei, was allerdings nur eine Luftblase war, die platzend eine noch größere Leere hinterließ.

Habe einer mal versucht zu erklären, dass es im Leben nicht darum geht, etwas sinnvolles zu tun, weil nichts Sinn hat oder braucht, sondern was ist, zu genießen, weil wir nie mehr können und erntete völliges Unverständnis von dieser Preußin, die eigentlich unglücklich ihre Pflichten erfüllt, um zu funktionieren und ein guter Mensch zu sein. Anzuführen, dass sie sich doch gerade die Pause hier gönne, führte nur zu Orgien der Rechtfertigung, warum dies gerade nötig sei, weil sie vor Erschöpfung nach Botox oder Shopping wirklich nicht gleich fahrtauglich wäre. Sie können sich nicht entspannen und einfach genießen, wenn sie sich entspannen, machen sie das beim Yoga oder wenn sie mit ihren Freundinnen gemeinsam am Telefon über den Stress klagen. Nur falls sie dabei feststellen, dass es der noch viel schlechter geht, fühlen sie sich statt besser noch schlechter, weil sie auch im Leiden noch konkurrieren.

Eigentlich sind diese reichen Gattinnen in ihrer sozialen Gefangenschaft die ärmsten Huren der Gesellschaft, da sie niemandem leid tun, im Gegenteil nur Neider um sich haben, denen sie noch beweisen müssen, wie toll und sozial sie sind, während sie unter vollem Körpereinsatz ihr Leben verkaufen, um eine Rolle zu spielen, die nicht ihre ist und sie meist nie erfahren, was denn ihre gewesen wäre, weil sie ja einfach funktionieren. Tröstlich ist nur, ihren Gatten und den meisten Menschen geht es nicht besser, die noch zusätzlich im Job funktionieren müssen, doch die dürfen sich zumindest noch glaubhaft einreden, sie täten etwas sinnvolles, zahlten zumindest meist viel zu viel Steuern zur Versorgung  derer, die sich vorm Arbeiten drücken.

Solche Gespräche mit den Damen, die im Wohlstand leben und die mühsam ihrer Taschen mit der neuesten Designermode noch zu ihrem Platz erschöpft schleppten, zeigten mir, was ich für ein glücklicher Mensch bin und wie sehr ich mein Leben bisher genossen habe und ich beschloss noch mehr darauf zu achten, nie zum Kläger zu werden. Interessant ist, warum sie hierher kamen, einen literarischen Ort, nicht ins KaDeWe unter ihresgleichen Erholung suchten, wo sich keiner für seinen Reichtum schämt. Sie wollten eben auch dem Anspruch einer gebildeten Frau genügen und waren es teilweise auf ihrem Gebiet auch sehr. Erstaunlich viele ehemalige Kunsthistorikerinnen oder Germanistinnen, die nun klagten, nie etwas daraus gemacht zu haben und jetzt interessiere es ja auch keinen mehr. Dennoch suchten sie bewusst diesen Ort aus der auch für Kultur, Bildung und Literatur stand, die sie eigentlich liebten auch wenn sie zunächst lange von anderem erzählten.

Waren wir dann beim Thema, widmeten sie sich der Kunst oder plauderten sie über ihre Verbindung zur Literatur, hörte zumindest das Klagen auf und nach Erledigung der dort standesüblichen Formeln, von müssen sie unbedingt gesehen haben, dringend auch noch lesen und ähnlichem bis zu muss ich auch noch haben, wurde es manchmal sogar ein interessantes Gespräch, was dann aber dringend abgebrochen werden musste, weil sie ja nur für eine Stunde eingeworfen hätten und die hier so streng wären. So war es im Ergebnis selten wirklich erquicklich aber öffnete mir doch neue Welten und ich genoss, wie gut es mir mit nichts im Vergleich ging.

Das Literaturhaus Berlin ist eine öffentliche Institution des Landes Berlin, so wenig literarisch das auch klingt, und bietet dem literarisch interessierten Publikum verschiedene Möglichkeiten der Information und des Austausches durch Lesungen, Buchpräsentationen, Symposien, Diskussionen, Vorträge, Tagungen, Aufführungen und Ausstellungen. Alles, was das gebildete Publikum von Welt sich gerne so zeigen lässt, um mitreden zu können. In der Fasanenstraße 23 gelegen ist es Teil einer Villa des Historismus, mit Cafébetrieb, mehreren Sälen und einer Buchhandlung. Seit 2003 leitet der Lyriker Ernest Wichner das Literaturhaus. Der in Rumänien geborene, deutsche Schriftsteller siedelte nach dem Studium der Germanistik und der Gründung des Schriftstellerkreises Aktionsgruppe Banat 1975 in die Bundesrepublik über, wo er nochmal an der Freien Universität Germanistik und Politikwissenschaft studierte. Er ist Mitgliedd des PEN-Zentrums und lebt als Autor, Literaturkritiker, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er begleitete 2004 Oskar Pastior und Herta Müller auf eine Reise in die Ukraine, wo sie die Lager besuchten, in denen Pastior als rumäniendeutscher Zwangsarbeiter zwischen 1945 und 1949 interniert war. Pastiors Erinnerungen beschrieb die Nobelpreisträgerin Müller in ihrem Roman die Atemschaukel.

Die wichtigste Aufgabe des Literaturhauses ist die Vorstellung und damit indirekte Förderung deutschsprachiger und internationaler Autoren sowie die Darstellung literarischer Zusammenhänge und Hintergründe. Im Programm spiegelt sich immer wieder die literarische Moderne, ihre Konflikte und Hintergründe sowie ihr politischer und ästhetischer Kontext. Träger des Hauses, das jährlich rund 80 eigene und zahlreiche Gastveranstaltungen organisiert, ist ein Verein, der sich um die Fördermittel kümmert. Ein Teil der literarischen Produktion sind die im Buchhandel erhältlichen Texte aus dem Literaturhaus Berlin. Gemeinsam mit RBB Kulturradio vergibt es den Walter Serner Preis für Kurzgeschichten, der mit 5500,- Euro dotiert ist. Tut also wirklich was für die Literatur.

Das Café Wintergarten befindet sich in den historischen Räumlichkeiten des Hauses und wird laut Wikipedia überwiegend von kulturell aufgeschlossenem Publikum besucht, warum verständlich wird, wieso der Besuch hier für die Damen, um sich als solche zu zeigen, natürlich Pflicht ist. Das Gebäude, das dem Land Berlin gehört, ist Teil des Wintergartenensembles, das aus drei repräsentativen Stadtvillen und dem sie verbindenden Skulpturengarten besteht. Es wurde 1889/1890 als spätklassizistischer Backsteinbau für das Ehepaar Hildebrandt von den Architekten Albrecht Becker und Emil Schlüter gebaut. Der Korvettenkapitän Richard Hildebrandt war Teilnehmer der ersten beiden deutschen Nodrpolfahrten und später Abgeordneter für Charlottenburg. Im Ersten Weltkrieg wurde das Haus ein Reservelazarett und nach dem Krieg eine Volksküche. Ab Ender der 20er Jahre war es im Besitz der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die darin ausländische Studenten unterbrachte. Nachdem das Haus später eine zeitlang gleichzeitig Bordell und Disco war, sollte es zunächst zugunsten eines Autobahnzubringers abgerissen werden, was glücklicherweise eine Bürgerinitiative zu verhindern wusste. Nach dem Erwerb durch das Land Berlin und seine umfassende Sanierung wird das Haus seit 1986 als Literaturhaus genutzt.

Damals noch eher wortloser Dichter meist, gerne Flaneur fühlte ich mich an diesem Ort schon sehr wohl - wie es zum Schreiben dort ist, habe ich leider noch nie ausprobiert, was ich dringend ändern sollte, sobald das Wetter die Fahrradtour in den tiefen Westen wieder verlockend erscheinen lässt. Es ist ein literarisch inspirierender Ort, auch wenn Suhrkamp inzwischen aus deren Nachbarschaft in meine auf den Berg zog, von dem sie sich vermutlich bald gen Mitte wenden werden. Charlottenburg ist eigentlich völlig langweilig, überaltert und fern dem aktuellen Geist, dachte ich immer als typisch vorurteilsbehafteter Bergbewohner, gerade als nur Zugereister um hiesige Identität ringend, doch nun schrieb ich schon die dritte Geschichte von dort und nehmen wir die Zeit der Gründung des KaDeWe dazu sogar die vierte - es wird also Zeit auch dem irgendwie musealen alten Westen gegenüber die Vorurteile zu widerrufen, um die Kunst und das Leben dort zu genießen, wo es sich zeigt. Das Literaturhaus ist, zumindest seines Cafés wegen immer mehr als einen Besuch wert und es wird mal wieder Zeit, dort zu verweilen und zu genießen, wer auch immer nun bedient. Vielleicht ist das schöne gediegene Charlottenburg eine Art heimliche Liebe des Bergbewohners, der mit seinem Arbeiterkiez immer etwas fremdelte.
jens tuengerthal 15.3.2017

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