Samstag, 4. März 2017

Berlinleben 010

Nun war ich Vater, aus dem Tagebuch eines Berliners ist damit schon das größte und schönste Erlebnis eigentlich erzählt. Mehr geht nicht. Da wer klug ist, aufhört, wenn es am schönsten ist, wäre dies nun eine gute Gelegenheit diese eitle Nabelschau zu beenden. Leider bin ich weder klug noch weise, täte nur gern so und beende darum die Chronologie und das Tagebuch hiermit, erzähle nur noch immer mal kleine Anekdoten, was sonst noch alles passierte, versprochen.

Diese werden nun zufällig kommen, losgelöst vom Ablauf eines Tagebuchs, dass ich nur selten real schrieb. Kleine Geschichten sind auch meist besser verdaulich als solch dramatische Ereignisse wie Schwangerschaft und Geburt, die mich gestern so aufwühlten, dass ich gleich noch in der Nacht unbefriedigt über Orgasmen schreiben musste, um Ruhe zu finden bei einem bekannten Thema.

Was mir einfällt, hängt an der Stimmung und am Wetter - heute bei frühlingshaftem Sonnenschein, kommen mir ganz andere Erinnerungen als an grau verregneten Tagen, mal geht es um die Stadt, dann mehr um die Menschen in ihr, manche halten sich für Promis, was immer das auch sein soll, andere sind nur stille Beobachter wie ich, der gestern die drei Damen an der Bar, die so sichtbar das Gespräch mit ihm suchten, voller Bedauern freundlich anlächelte, weil er nichts suchte und nur mal schauen wollte, wie es Franz Hessel tat, der mit Walter Benjamin natürlich unerreichtes Vorbild bleibt. Sie waren so schick und plapperten ununterbrochen nett, wenn sie nicht gerade auf ihren Telefonen herumwischten, die sie in noch schöneren Hüllen trugen, die den Glanz ihres echten Modeschmucks harmonisch wiederspiegelten. Ihr Lächeln war so smart wie ihre Telefone und wie diese immer mit aller Welt verbunden sind, blieb es völlig unverbindlich.

Dann wieder plaudere ich selbst, wie gestern in selbiger Bar nur einige Meter von den Damen entfernt, mit Ali dem kurdischen Freund, der lautstark mit dem Bier in der Hand erzählte, dass er all die Erdogan Anhänger zurück in die Türkei schicken würde, dass die hier nichts verloren hätten mit ihren Kopftüchern und ihrem mittelalterlichen Aberglauben, er, der früher noch nett über den nun Präsidenten sprach, mit dem er einst als Ingenieur die Bewässerung von Istanbul neu plante, der aber den Verstand verloren hätte und dessen Frau endlich mal, nach seiner Meinung, gut gefickt werden müsste, um diesen impotenten Ziegenficker von Ehemann zu vergessen. Lache mit ihm über seinen Zorn und weiß doch wie bitter die Wut auch ist, weil er die Geschichten aus den kurdischen Dörfern näher kennt als viele ahnen und frage nur, ob Hass und Vertreibung je weiterführen - er jedenfalls will nächstes mal Merkel wählen, was er auch jedem erzählt, der nicht danach fragte.

Begegnungen und Orte bei denen sich Bewohner und Gelegenheiten mit dem je besonderen der Situation mischen. Es wird damit natürlich zusammenhangloser und spontaner - wer eine schlichte Chonologie des Lebens des Autors daraus ablesen will, wird es noch schwerer haben als vorher, doch könnte das auch täuschen, denn wer weiß schon, wie wirklich die Wirklichkeit ist, die ich beschreibe?

So stifte ich durch wilde Sprünge durch die Zeiten, in die ich dann und wann noch historische Gedanken mische, falls mir zufällig etwas dazu einfällt, sicher Verwirrungen in den Geistern aller ordentlich und linear denkenden Leser und gebe doch vielleicht damit ein getreueres Abbild von mir und dem, was ich sah - mehr erzählt ohnehin keiner, ob er es nun Epos, Verse, Sage, Märchen, Kurzgeschichte, Roman, Theaterstück oder Tagebuch nennt, immer spiegeln wir nur Bruchstücke unserer Erinnerung, liefern eine wesensmäßig notwendige Prosa des Unvollständigen, auch wenn wir uns immer wieder anderes anmaßen.

Beherrsche nicht mal die Anmaßung gut genug, es mit ihr auch nur zu versuchen,  sage, wie es mir scheint, erzähle, was war, zumindest für mich und freue mich an den kleinen Höhepunkten zwischendurch eher als über das viele Nichts und die große  Leere, die 16 Jahre in einer Großstadt vermutlich mehr ausmachen, als uns oft bewusst ist. Nichts von allem, was ich erzähle, war wirklich so, habe ich doch lange genug schon gelernt, zu fragen, wie wirklich diese angebliche Wirklichkeit ist und frage weiter, immer wenn es darauf ankommt mit Montaigne, was weiß ich schon?

Es dauerte bis 2010, als ich wieder in eine eigene Wohnung für mich zog, dass ich den nächtlichen Teil des Berliner Lebens für mich entdeckte, wie es ist, bis Morgens hier im Café zu sitzen, in die Dämmerung zu tanzen. Anderes lernte ich schon früher kennen, bei manchmal zufälligen Gelegenheiten. Am aufregendsten waren meist die Ereignisse, um die ich mich am wenigsten bemüht hatte. So ist manches paradox in dieser Stadt, in die so viele streben, um etwas zu erleben, auch aus der weiten Ödnis Brandenburgs, in die umgekehrt immer mehr Berliner ziehen, um ihre Ruhe zu haben, zumindest manchmal.

Bis dahin lebte ich mit der Mutter meiner Tochter in einer Paarbeziehung, die mit zunehmender Dauer eine abnehmende Frequenz sexueller Akte hatte, wie das wohl immer so ist - von daher sind aufregende Berichte zu dem Thema, außer dem, was ich schon schrieb, bis dahin weniger zu erwarten, sehen wir von Ausnahmen ab - wir hatten ja auch schon den bestmöglichen status quo erreicht, was sollte da noch kommen?

Nichts ist langweiliger als Personen, die sich überschätzen und da ich nun das für mich aufregendste im Leben chronologisch erzählte, kann ich danach frei zwischen allem surfen, was mir gerade einfällt - halte mich weder für besonders bedeutend noch so interessant, dass ich mich an die zufällige Reihenfolge meines Lebens halten müsste - ist halt eines von Millionen hier und spannend wird es erst, wo es mit anderen Leben kollidiert oder sich mit der Stadt an besonderen Orten konfrontiert.

Manches erlebte ich, anderes träumte ich eher, oft kam mir die verrückte Wirklichkeit auch traumhaft vor und manchmal verschwimmen die Grenzen beliebig. Sie tun das mal auffälliger, mal nur ganz dezent - am Ende mach ich mir die Wirklichkeit auch in Berlin genau wie sie mir gefällt und was mehr sollte ich noch wollen?

Die gelangweilten Leserinnen können beruhigt sein, das Tagebuch endet an dieser Stelle, die gespannten Leser seien ohne Sorge, es geht natürlich immer weiter, nur eben so, wie es mir gerade einfällt, was meinem sprunghaften Wesen als Autist in der Menge sehr liegt. So wenig ich wirklich weiß, was ich bin, ob teils autistisch, völlig sprunghaft, romantisch, vernunftbesessen, materialistisch, verrückt, ganz normal, eher durchschnittlich, lieb, böse, Denker, Spinner, Künstler, Versager, guter Liebhaber, impotent oder ein geiler Hengst was unter vielem anderen vor allem Frauen über mich sagten, so wenig lasse ich mich nun noch binden und werde einfach schreiben, was mir gerade einfällt von den Spaziergängen eines Flaneurs in Berlin, der weder weiß, was er will, noch wer er ist, aber ausgiebig genießen zumindest konnte und mit Liebe um sich schaut, auf das was ist.
jens tuengerthal 4.3.2017

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