Dienstag, 7. Februar 2017

KMG 005

Gerüchtemärchen

Es war einmal eine alte weise Frau, die lebte im Wald für sich wie eine Nonne. Sie gehörte aber keinem Orden oder Kloster an und hatte auch keine Kinder. Sie bettelte nicht und wollte auch keine Almosen. Sie lebte einfach für sich und störte eigentlich niemanden. Wären da nicht die Gerüchte gewesen.

Zuerst hieß es, gestreut von den Frauen, die nicht wussten, was das für eine war, sie sei eine Hure, welche die Männer zu sich locke, verführe und ihnen das Geld abnehme, sich für Sex bezahlen ließe, bei dem sie geheime Techniken kannte, von denen die frommen Frauen nichts ahnten.

Doch fand sich in Wirklichkeit kein Mann, der davon erzählte, auch in den Runden der Männer nicht, wo die Männer doch gern mit solchen Geschichten prahlten. Nur der Förster hatte mal mit ihr gesprochen, was sie denn dort wolle, warum sie im Wald siedle und nicht im Dorf, so als Frau, ganz allein, hatte er sie gefragt.

Sie hatte eine Urkunde geholt auf der ihr vom König der Besitz eines kleinen Stückes Waldes bescheinigt wurde. Es blieb der königliche Forst, aber in der Urkunde stand, sie dürfe genau dort, wo sie jetzt war, ihr Haus errichten und sich von den Früchten dort nähren, handelte mit königlichem Forschungsauftrag, bis sie stürbe, dann fiele der Wald wieder an den König zurück.

Der Förster hatte es im Wirtshaus erzählt und so wurde die Geschichte schnell publik. Einige Frauen wollten wissen, dass sie wunderschön sei und eine frühere Geliebte des Königs war, doch der Förster winkte ab. Von schön könne nicht mehr die Rede sein, vielleicht früher einmal, beim Vater des Königs - heute sei es eine rothaarige Alte, der schon einige Zähne fehlten und die sich meist krumm hielt, als hätte sie einen Buckel - sie sei eine Kräuterkundige, sonst nichts.

Sie ist eine Hexe, sagte eines der Mädchen, die Jungen und Männer lachten darüber, Hexen gab es ja nicht, während die Frauen zu tuscheln anfingen. Sie hatten viele Theorien, was mit ihr wäre. Der Förster klärte mal auf, dann stiftete er neue Verwirrung, weil die Menschen nicht verstanden, wie er es meinte. So auch als er sagte, sie hätte einen gut gepflegten Kräutergarten und da wüchsen Sachen, die hätte er nicht mal im Kloster je gesehen.

Viele waren sicher, dass es eine Kräuterhexe war, zumindest eine Verrückte - wer zog auch ganz allein in eine Hütte im Wald und hatte ein königliches Diplom für seine Einsiedelei. Als die Frau vom Bäcker ihr Kind verlor, war sie sicher, die Hexe hätte sie verflucht - sie wollte auch nicht zugeben, dass sie zu viel getrunken hatte und von der Leiter gefallen war, ihr Kind vermutlich nicht von ihrem Mann dem Bäcker sondern von dem Mann aus dem Morgenland war, der im Kloster zu Gast war und den sie so schön fand, dass sie ihm persönlich Leckereien brachte, wenn sie ans Kloster lieferte, bis er sie auf seine Stube lud und sie dort das Glück der orientalischen Liebe lehrte.

Es war voller Leidenschaft gewesen und sie hatte Gefühle dabei gehabt, von denen sie nicht mal geahnt hatte, dass sie dabei passieren konnten. Er hatte ihr genau erklärt, warum nichts passieren könnte, weil er den anderen Eingang wählte, aber jeder wusste ja, was die Männer alles erzählten, wenn sie nur ihren Spaß haben wollten. Seine dunkle Schönheit hatte sie sehr angezogen und so hatten sie es immer wilder getrieben. Im Kloster ging das, es war üblich, der Abt übersah es, Gäste waren freier als Mönche, manche Magd verdiente sich ihre Aussteuer, indem sie den Mönchen ihren Arsch entgegenstreckte, wenn sie darum baten und dafür ordentlich entlohnt wurde.

Sie lebten gut mit dem Kloster, jeder auf seine Art und wurde eine schwanger, konnte das Kind ins Kloster später, wurde zumindest von der Kirche versorgt, es ging ihm also besser als manchen unter den Bauern und so zögerten viele nicht lang, wenn sie eine Einladung erhielten oder rissen sich darum, dorthin zu liefern.

Der Bäcker war schon alt, hatte spät eine sehr junge Frau geheiratet und so hatten alle immer schon gelacht, wenn die Bäckerin immer persönlich dort die Backwaren hin liefern wollte. Alle wussten es und trotzdem glaubten ihr immer mehr die Geschichte von der Hexerei, deretwegen sie das Kind verlor, dass sich der Bäcker doch so wünschte als Erben, egal ob wer glaubte, es sei von ihm.

Wenn der Bäcker starb und es gab noch kein Kind, was alles erbte, war die Witwe eine reiche und freie Frau. So dachten es viele der anderen Frauen aus dem Dorf nicht ohne Neid und dennoch hatten sie ihr die Geschichte geglaubt, hatte sich keiner gewundert, warum nun ausgerechnet die Bäckerin verhext worden sein soll, die doch nichts mit der Alten im Wald zu schaffen hatte.

Das Gerücht machte sich selbständig, längst hatten die Leute die Ursache und ihre fragwürdigen Gründe vergessen, als wieder eine junge Frau ihr Kind verlor. Sie wusste nicht warum, war nur zufällig in der Nähe der Hütte zum Reisig sammeln gewesen, als sie Schmerzen fühlte und anfing zu bluten. Da waren sich die Frauen im Dorf plötzlich sicher, es musste an der Alten in der Hütte liegen.

Die Wirtin erzählte es den Männern im Gasthaus und während die nüchternen unter ihnen, wie der Förster und der Bürgermeister, es noch als Gerüchte abtaten, bevor sie sich in die Nacht verabschiedeten, glaubten die Jüngeren es sogleich und wollten die verlorene Seele des Kindes rächen. Sie berieten sich, was zu tun sei und beschlossen, sie tüchtig zu verprügeln und aus ihrem Wald zu vertreiben. Als einer einwandte, sie könnten sie doch wegen des Kindsmordes vor Gericht stellen, winkten die anderen ab,  wie konnte er so dumm sein, die Gerichte arbeiteten im Auftrag des Königs unter dessen Schutz sie ja stünde und also müssten sie sich selbst helfen.

Die Männer steigerten sich, betrunken wie sie waren immer mehr in ihre Wut und beschlossen alle gemeinsam nun mit Fackeln zu der Hütte im Wald zu ziehen. Damit sie nicht auch noch verhext würden, könnten sie ja einfach Feuer legen, damit die alte Hexe im Schlaf verbrenne, dann könnte es auch ein Unfall gewesen sein, falls der König fragt. Diese Idee fand breite Zustimmung und bei der nächsten Runde organisierte die Gruppe, angetrieben von dem jungen Mann, dessen Frau gerade ihr Kind verlor, wer die Fackeln besorgen solle und wann es losging.

Weil der Mann der jungen Frau aber fürchtete, die Wut könne sich nüchtern wieder verlieren und wirklich Angst hatte, hetzte er alle auf, sogleich zu gehen, um mit einem reinigenden Feuer ihre Freiheit zu verteidigen und die verlorene Seele zu rächen. Er wollte die Fackeln besorgen und wäre in einer halben Stunde wieder da. Da sie noch lange diskutierten, wie sie sich vor dem Zauber schützen sollten, war es sehr spät geworden, als die Gruppe mit Kreuzen bewaffnet, die sie beschützen sollten, schließlich aufbrach.

Auch wenn sich die Männer viel Mut angetrunken hatten, manche kaum mehr gerade gehen konnten, hatten sie doch Angst, so im Dunkeln durch den Wald zu ziehen und damit es keiner vom anderen merkte und weil sie  so betrunken waren, begannen sie laut zu singen auf ihrem Fackelzug, der das Dorf von dem bösen Fluch befreien sollte.

Die Alte hatte wie viele alte Menschen einen leichten Schlaf. Sie war es gewohnt in völliger Stille alleine zu leben und hörte darum die Männer bereits von Ferne, als sie noch weit von ihrer Hütte entfernt waren. Sie kannte die Menschen und war schon mehr als einmal vertrieben worden, bis der König, der ihr Wissen um die Kräuter schätzte, ihr das kleine Stück Wald gab. Sie überlegte kurz, was sie tun sollte. Sicher konnte sie sich verstecken und weglaufen, sich eine neue Hütte aufbauen und den Garten wieder anlegen. Es war ihr Grund, der König hatte ihn ihr überlassen. Sie konnte auch jeden Eindringling vertreiben. Für Notfälle hatte sie ein Gewehr und könnte sich wehren - aber würde sie dann in Frieden leben?

Wenn sie nichts tat, hätte sie es bald hinter sich. Sie glaubte nicht, dass diese Feiglinge sie direkt angreifen würden, dazu waren sie zu feige. Vermutlich würden sie Feuer legen und verschwinden, dann könnte sie entweder schnell am Rauch ersticken oder die Flammen löschen. Vermutlich war es am besten, sie versteckte sich in der Schonung nebenan, dachte die Alte, zog sich schnell etwas über und verzog sich, bevor die Meute kam, selbst wenn sie nicht mehr sehr am Leben hing, sie war alt und erwachte jeden Morgen mit Schmerzen, es würde nichts besseres mehr kommen, wollte sie doch lieber selbst entscheiden, wann sie ging und wie. Dies war nicht ihr Weg.

Wie sie richtig gehört hatte, kam die Horde näher, ermahnte sich dann so laut gegenseitig zur Stille, dass jeder in einem Kilometer Umkreis bescheid wissen müsste - aber hier war keiner außer ihr. Sie schütteten etwas über die Hütte und hielten dann die Fackeln daran, da sie betrunken waren und unachtsam, verbrannten sich noch zwei von ihnen dabei so schwer, dass ihre Kleidung brannte. Nun waren sie schlagartig ernüchtert, wollten ihre Freunde retten, löschte diese und dabei den Brand wieder und zogen verwirrt ab.

Durch die Verbrennungen und die für sie nötige Hilfe, ließen sich die Täter ganz schnell identifizieren, dachte sie und überlegte, ob sie Anzeige erstatten sollte. Sie wollten sie feige umbringen und nur ihre guten Ohren und deren Dummheit hatten sie gerettet. Solchen Verbrechern musste doch das Handwerk gelegt werden, wenn sie friedliche Waldbewohner angriffen in ihrem Wahn.

Beim letzten mal, hatte sie es auch so gemacht. Der König hatte Anklage erheben lassen, die Männer waren bestraft worden und mussten ihre Hütte wieder aufbauen. Es wurde viel wert auf Gerechtigkeit gelegt, dachte sie. Nur die Frauen, deren Männer ins Gefängnis kamen, hatten sie noch mehr gehasst. Sie stießen Flüche aus, wenn sie die Alte sahen und es würde nicht lange dauern, bis sich der nächste Trupp aufmachte, um die Fremde zu vergraulen oder zu töten und mit jedem Misserfolg, stiegen Hass und Wut auf sie noch, die nichts damit zu tun hatte, einfach nur da war und anders war als der Rest, was Grund genug schien, sie vergraulen zu wollen, sie zu hassen.

Wer anders war und so sein konnte, machte Angst, weil es dann keinen Grund mehr gab, normal zu leben und so stellten diese anderen immer, ihre Art zu leben, wie sie es gewohnt waren, in Frage. Sie fürchteten sich auch sonst vor allem Unbekannten, dem sie magische Kräfte zuschrieben. Alles Hokuspokus und dummes Zeug, dachte der König, ließ in den Schulen darüber aufklären, was jedoch nicht den Aberglauben verminderte sondern nur viele neue abstruse Formen davon gebar, als kämen aus jedem abgeschlagenen Kopf der Hydra des Volksglaubens gleich vier neue.

Aufklärung konnte nicht diktiert oder angeordnet werden, sie erforderte logisch selbständiges Denken. Befreien konnte sich danach nur, wer sich aus der also selbstverschuldeten Unmündigkeit befreite, wobei letzteres die Unfähigkeit selbständig zu denken meint, was selbstverschuldet war, sofern es nicht auf Dummheit beruht, das Richtige zu erkennen. Sie wusste es genau und glaubte nicht daran, dass ein Strafprozess die Menschen zum selbständigen und kritischen Denken brachte.

Wenn sie irgendwo in Frieden leben wollte, musste sie den Hass überwinden und den Menschen helfen, ihre Vorurteile los zu werden. Sie hatten Angst vor allem Fremden und ließen sich aufhetzen, dachte sie. Eigentlich hätte sie lieber ihre Ruhe gehabt, aber da das mit Menschen, die wie gewohnt lebten, nicht möglich schien, beschloss sie den Verletzten lieber zu helfen, statt sie anzuklagen.

Sie machte sich am nächsten Tag mit einem Beutel voller Kräuter, viel Salbei, Beinwurz und Ringelblume, Möhre und anderen guten Sachen auf den Weg ins Dorf. Einige erschraken, als sie die Alte auftauchen sahen, fürchteten, sie wolle nun Anzeige erstatten und sich beschweren. Doch sie ging am Rathaus vorbei ins Gasthaus und fragte die Wirtin, ob ihre Hilfe gebräucht würde, sie habe gehört, es hätten sich einige letzte Nacht schwer verbrannt.

“Was wollt ihr?”, platzte die völlig verwirrte Wirtin heraus, die von den Männern gehört hatte, sie hätten mit ihr gekämpft und sie hätte sie wie ein Drachen mit Feuer bespuckt und dann hätten sie fliehen müssen und drei hätte es eben erwischt.
“Helfen, ich denke diese Männer brauchen Hilfe und kaum einer wird sich ins königliche Krankenhaus trauen, um Fragen zu vermeiden.”
“Aber …”, mehr brachte die Wirtin nicht mehr heraus, als der Bürgermeister und der Förster den Schankraum betraten und sie freundlich begrüßten.

Sie erklärte nochmal, was sie wolle und die beiden Männer ahnten schon, was passiert war. Die Wirtin aber, die sich wieder vom ersten Schrecken erholt hatte, keifte von hinten, “sagt ihr nichts, sie will sie vergiften und sich rächen.”

Damit hatte sie nicht nur offenbart, dass sie wusste, was vor sich ging, sondern auch gezeigt, wo das Problem lag. Die Alte sah zu der rasende Wirtin, die plötzlich merkte, dass alle sie anstarrten, als sei sie verrückt geworden, begriff irgendwie, dass sie sich verraten hatte, warum sie sich auf den Mund schlug und den Kopf gegen einen Pfosten stieß, der Verzweiflung nahe war.

“Wollte ich mich rächen, könnte ich alle, die letzte Nacht mein Haus angesteckt haben, anzeigen und der König würde ihnen den Prozess wegen Mordes machen. Aber das kenne ich schon, die Gerichte in diesem Reich arbeiten zuverlässig, alle Beteiligten, die Anstifterinnen eingeschlossen, würden bestraft und auf Mord steht  lebenslänglich...”

Sie machte eine kleine Pause, sah die Wirtin an, die immer noch den etwas wahnsinnigen Blick hatte, voller Hass und Angst, aber zuzuhören schien, wie gebannt wirkte.

“Möchte aber nur in Frieden dort leben mit meinen Kräutern, züchten und forschen, darum suche ich keine Rache sondern biete meine Hilfe an. Die können sie nun annehmen oder nicht, wenn nicht, werden sie zum Arzt gehen müssen, die Ärzte müssen solche Unfälle melden, irgendein Polizist wird schon was merken und dann ermitteln die königlichen Beamten, bis sie die Spur finden und so dilettantisch wie es ablief und so aufgeregt, wie alle noch sind, wird es nicht lange dauern, bis sie die Täter haben und dürfte ich dann vor Gericht lügen Herr Bürgermeister?”
“Nein, natürlich nicht, sie wären ja Zeugin, nicht Angeklagte, sie dürften nichts als die Wahrheit sagen.”
“Löge ich, machte ich mich strafbar, aber da ich weder lügen müssen, noch mich mit jemandem streiten will, sondern in Frieden leben möchte, biete ich ihnen darum meine Hilfe an.”
“Aber warum wollen sie denen jetzt helfen, die, die …”, die Wirtin stotterte und sah verwirrt in die Runde - sie war etwas überfordert, verstand nicht, was die  Alte wollte und fürchtete sich doch vor ihr, auch wenn sie gerade das Gegenteil verkündete.

“Das klingt sehr gut und wir nehmen jede Hilfe dankbar an, doch die Täter müssen dennoch bestraft werden. Solches Handeln ist mörderisch und das können wir nicht hinnehmen. Rufe jetzt unseren Polizisten und werde Anzeige gegen Unbekannt stellen, auch wenn ich so eine Ahnung habe, wer dahinter steckt.”, sprach der Bürgermeister und sah die Wirtin mit wütendem Blick an.
“Ach sparen sie sich das, genau das will ich nicht. Sie sind bestraft genug mit ihren Verbrennungen, ihrer Angst und ihren Vorurteilen. Wenn ich künftig meine Ruhe will und nicht ständig Wachposten vor meinem Haus sitzen wollen, muss ich ihnen die Angst nehmen und ihnen die Hand zur Hilfe leisten.”
“Das klingt sehr vernünftig”, mischte sich der Förster ein, der auch genau wusste, wer da wohl gestern losgezogen war, “wer sich in der Not hilft, braucht sich nicht mehr zu fürchten.”
“Das gibt es doch nur im Märchen”, mischte sich die misstrauische Wirtin ein, “sie wird sich rächen wollen, warum sollte ein Mensch seinen Feinden helfen wollen?”
“Weil sie ihre Ruhe und Frieden möchte und die Dummheit der anderen schon kennt”, entgegnete ihr der Oberförster, den die Vorurteile der Wirtin ärgerten.
“Was sagen sie Herr Bürgermeister?”, fragte mit klagendem Blick die Wirtin.
“Finde es sehr vernünftig, was mein Freund hier vorschlägt, halte mich aber lieber raus, weil ich als Teil der Staatsmacht sonst zum Handeln verpflichtet bin, betrachten sie mich als unbeteiligten Zuschauer, ich weiß von nichts.”
“Und wenn sie nicht mitmachen sie wegschicken, wird der Staat dann ermitteln?”, ängstlich schaute ihn die Wirtin an, die langsam ahnte, was auf sie und ihre Freunde zukam.
“Wo die Gefahr besteht, dass eine unschuldige Bürgerin getötet wird, muss der Staat sie schützen. Solcher Schutz ist aufwendig und kostet viel Geld. Dies müssten wir bei der königlichen Kasse beantragen…”
“Dann erführe der König davon und alle, die mit dabei waren, würden schwer bestraft…”
“Nicht nur die Verbrannten, auch ihre Anstifter und die geistigen Brandstifter, würden wie solche bestraft, müssten lange ins Gefängnis, damit die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt.”
“Sie meinen, auch solche, die nur geredet haben?”,  fragte mit zitternder Stimme die Wirtin.
“Das sind die gefährlichsten”, sagte der Bürgermeister mit ganz amtlicher Stimme, “ich würde mich persönlich darum kümmern und gleich hier damit anfangen.”

Da brach die Wirtin in Tränen aus und unter ihrer Angst und ihrem schlechten Gewissen zusammen. Sie wusste, dass Förster und Bürgermeister gehört hatten, wie sie die Männer aufhetzte.

“Es war doch alles nur wegen Klara..”, begann sie unter Tränen und schluchzend und keiner glaubte noch, sie könne diese Angst spielen, “dem Kind, naja, sie wissen schon, wir hatten Angst weil es doch so oft passierte und immer dann.”
“Wie oft ist es passiert?”
“Klara und” - sie machte eine Pause und dachte sichtbar nach - “zwei Jahr davor Hilde die Bäckersfrau.”
“Bei der alle sich fragten, wie der Alte sie noch geschwängert haben soll”, entgegnete der Förster mit einem Zwinkern.
“Zweimal in den letzten fünf Jahren, was weit unter dem Durchschnitt  unseres Landes liegt”, ergänzte der Bürgermeister sehr korrekt und schaute sich dabei mit seinem Freund dem Förster an und sie zwinkerten sich zu, ohne dass es sichtbar zu wurde.

“Was soll passiert sein und was hat das mit mir zu tun?”, fragte die Alte, die sich nie um Gerüchte gekümmert hatte.
“Das kann die Wirtin wohl am besten beantworten, die kennt ja die Gerüchte im Dorf aus erster Quelle”, behielt der Bürgermeister seine formal korrekte juristische Sprache bei, auch wenn der ironische Treffer, den er damit landete, viel mehr über seine großen Fähigkeiten auch als Psychologe offenbarte.”

Die Wirtin wehrte sich noch, winkte ab, aber Förster und Bürgermeister bestanden darauf. Sie sollte es der Alten erklären. Mit hochrotem Kopf und vor Angst zitternder Stimme, dier aber Lockerheit spielen wollte, begann sie.

“Naja, so Gerede halt, die haben ihre Kinder verloren und die Klara, war im Wald gewesen, bei Hilde weiß auch keiner, was wirklich war, ich weiß es auch nicht so genau, hab es nur mal gehört, man hört ja  allerhand den ganzen Tag hinterm Tresen, verstehen sie?”, stotterte die Wirtin mehr als sie sprach und wurde doch am Ende wieder ein wenig frech, versuchte sich aus der Affäre zu ziehen, als habe nicht sie diese dummen Gerüchte maßgeblich zum überkochen gebracht.

“Die einen stehen hinterm Tresen und lauschen und die anderen, erzählen vorm Tresen - manchmal ist es aber genau umgekehrt”, wies der Bürgermeister die Hetzerin in ihre Schranken. Sollte sie ruhig Angst haben, dachte er, dann lernt sie vielleicht endlich was.

“Was habe ich mit den Kindern zu tun? Warum haben sie mich nicht um Hilfe gebeten?”
“Weil sie Angst haben, vor ihnen und allem was neu und unbekannt ist, voller Vorurteile sind und lieber jemanden umbringen, statt in Ruhe nachzudenken”, stieß der Förster wütend hervor und blitzte die Wirtin an.
“Ach es waren so dumme Gerüchte, die Leute reden halt manchmal, aber sie sind nicht böse”, versucht die Wirtin Land zu gewinnen und schaut die Alte als Frau vertrauensvoll an, reicht ihr die Hand, “niemand wollte sie umbringen”.

“Wer Nachts ein Haus ansteckt, in dem er schlafende Personen vermutet, die das Feuer töten könnte, handelt mindestens mit Eventualvorsatz zur Tötung, bedenke ich, wie hier im Haus noch gestern gegen die böse Alte im Wald gehetzt wurde, würde ich Anklage wegen Mordes erheben und stattgeben”, spielte der Bürgermeister seine Rolle perfekt, denn auch er wollte die Dinge lieber friedlich regeln, statt eine Hälfte seines Dorfes für viele Jahre in Festungshaft zu schicken, was er eigentlich müsste nach seinem gesetzlichen Auftrag.

“Neeein”, schrie die Wirtin unter Tränen, “ich wollte nie jemanden töten, ich bin nicht böse, es war doch nur Angst, vielleicht waren wir alle dumm”.
“Nicht nur vielleicht”, warf der Förster fast grinsend ein.
“Scheint mir sehr menschlich und kenne ich von vielen Orten, die Menschen haben Angst vor mir, weil ich anders bin. Wenn etwas passiert, sind alle die anders sind, immer die ersten Opfer. Früher waren es die Hexen oder die Juden. Heute sind es die Obdachlosen oder harmlose Kräuterweibchen wie ich. War schon immer so und oft spielte die Obrigkeit das böse Spiel mit, um den Zorn abzulenken. Aber ich will nur in Frieden leben, mit niemandem Streit. Frieden erreiche ich nicht, wenn ich um mein Recht kämpfe, sondern, wenn ich ihnen die Hand reiche”, hielt die Alte eine kurze Rede und nahm danach die Wirtin in den Arm.
“Kümmere mich sofort um alles, wir wollen doch alle nur in Frieden leben”, schluchzte noch ein wenig mitleidheischend die Wirtin, die aber langsam begriff, was von ihr erwartet wurde.

So nahmen die Dinge ihren guten Lauf, die Alte versorgte die Wunden ihrer plötzlich dankbaren beinahe Mörder, denen die Wirtin eingeschärft hatte, was ihnen drohte, wenn sie nicht mitmachten und der Alten vertrauten. Einige Männer aus dem Dorf kamen und reparierten die Schäden am Haus der Alten und dann ließen sich beide Seiten in Frieden, nur manchmal kam eine Frau nun zur Alten und fragte sie um Rat, wenn ihre Regel nicht kam, sie wusste mit ihren Kräutern immer Hilfe, auch wenn sie lieber half, dass die Kinder kamen, die andere sich wünschten und denen sie erklärte, wie sie es merkten und erreichten. Der Förster besuchte sie nun regelmäßig und brachte ihr Wild mit. Dann saßen sie oft stundenlang zusammen und redeten und er zog dies den Abenden im Gasthaus nun vor, wo sie sich vermutlich bald neue Gegner suchen würden.

“Sie hätten ihre Mörder leicht überführen können, sie waren so dumm diese Narren. Hätte jederzeit als Zeuge ausgesagt. Wer den Tod anderer riskiert, gehört bestraft”, provozierte der Förster sie, weniger auf der Suche nach Gründe, als um auf ein ganz anderes Thema zu kommen.
“Wären sie meine Mörder gewesen, hätte ich nichts mehr tun können. Ansonsten stimmt, das wohl, aber was hätte ich davon gehabt?”, erwiderte die Alte schulternzuckend.
“Gerechtigkeit und die Täter wären weg. Auch Sicherheit, dafür hätten wir schon gesorgt.”
“Mit Wachposten? Dummes Zeug, sicher lebt nur, wer vertrauen kann und die Herzen der Menschen gewinnt, vor allem die Frauen auf seiner Seite hat, die immer alles schneller merken als die trägen Kerle.”
“Wozu braucht es dann noch einen Staat, wenn die Frauen die Dinge besser unter sich regeln?”, wechselte der Förster dezent das Thema, war aber immer noch nicht da, wo er eigentlich hinwollte, hoffte nur der kleine Umweg machte es leichter und nicht zu durchsichtig.
“Weiß ich auch nicht, gäbe weniger Kriege vermutlich, was aber viele fürchten, vermute ich.”
“Die am Krieg verdienen oder die den Tod suchen?”
“Müssen nicht immer verschieden sein - aber sie wollen doch nicht mit mir über Politik reden, wenn sie von den  alten Geschichten anfangen, da steckt doch was anderes hinter.”
“Sie sind erstaunlich hellsichtig.”
“Nein, nur aufmerksam. Sie wollen keine politischen Weisheiten von einer alten Kräuterfrau hören. Dass wissen sie besser als ich, die so etwas schon lange nicht mehr interessiert.”
“Ihr Fall wäre gerade hochaktuell wo viele gegen Flüchtlinge hetzen wie früher gegen Juden, Hexen oder Kräuterfrauen.”
“Verstehe nichts von Politik und möchte mit Parteien nichts zu tun haben.”
“Politik geht doch jeden irgendwie an, finde ich, aber gut, wovon verstehen sie denn was?”
“Na von Kräutern, mit denen konnte ich damals auch helfen und hab ein Problem gelöst.”
“Sie meinen, es sollte sich jeder um das kümmern, wovon er etwas versteht?”
“Dabei kam immer noch das beste raus. Und nun rücken sie schon mit der Sprache raus, was gibt es?”

Der Förster fühlte sich ertappt, wollte sich aber auch nicht so schnell geschlagen geben, sondern lieber noch ein wenig abwarten, bis es sich von alleine ergab und suchte darum noch eine abstruse Ablenkung.

“Denken sie die Kräuter berühren auch die Seele eines Menschen?”
“Wollen sie jetzt spirituellen Hokuspokus von mir hören, da muss ich sie enttäuschen, ich bin eher sowas wie Biologin und forsche über Heilpflanzen, wenn auch auf eine etwas eigenwillige Art, habe mit Esoterik nichts zu tun.”
“Natürlich, wollte ihnen nicht zu nahe treten, meinte es auch eher übertragen, ob sie auch die Psyche verändern?”
“Einige ja, kommt drauf an welche, manche stärker als alle Medikamente.”
“Die Kräuter gegen die Verbrennungen haben auch den Hass beigelegt damals, die Menschen beruhigt und viele Jahre Frieden gebracht…”
“Nicht die Kräuter, die waren nur Krücken auf dem Weg zur Versöhnung. Hatten keinerlei psychogene Wirkung. Habe die Menschen nicht umgedreht, habe ihnen nur medizinisch geholfen.”

Nachdenklich schaute der Förster die Alte an, sie war nicht nur ausnehmend klug, schnell und weise, sie war auch noch ehrlich bescheiden, maßte sich nichts an, wollte nicht glänzen, sondern lieber mehr sein als scheinen. Das Urteil solcher Menschen sollte mehr Gewicht haben, als all der Großmäuler, die sich immer nur aufbliesen.

“Haben sie von den Anschlägen auf die Flüchtlinge gehört?”
“Ja, sie erzählten letzte Woche davon”, antwortete die Alte blitzschnell und der Förster bemerkte seinen Fehler, aber das war nun egal, er suchte ja nur einen Übergang.
“Was fühlten sie dabei?”
“Wie bei mir, es ändert sich nichts, nie. Die Menschen suchen immer Objekte für ihren Hass, statt glücklich zu sein.”

Jetzt war er beim Thema und konnte endlich die Frage einkreisen, die ihn schon so lange umtrieb und die sie dann zum Kern führen würde. Er hatte das Gefühl, dass sie damals irgendwie nicht ganz zufrieden war mit ihrer Hilfe.

“Wenn sie das wissen, warum wagten sie dann zu vertrauen, statt auf Sicherheit zu setzen?”
“Weil es keine Sicherheit außer im Vertrauen gibt und ich meine Ruhe und meinen Frieden wollte. Die Dinge sind ganz einfach, ich handelte aus purem Egoismus.”
“Wie hätten sie die Wirtin alleine überzeugt?”
“Ach, sie wollen gelobt werden, Männer immer, meinetwegen, haben sie toll gemacht mit ihrem Freund dem Bürgermeister, ging viel schneller als bei mir vermutlich. Druck hilft doch immer,” spottete die Alte nur für den Kenner hörbar.
“Wollte eher wissen, wie sie es als Frau gemacht hätten.”
“Weniger mit Druck, mehr mit Gefühl, langsamer und im übrigen hat sie es ja schnell verstanden und umgeschaltet.”
“Als die Angst den Hass überwand.”
“Genau unter Druck, den ich nie ausgeübt hätte, womit und wozu auch? Moralisch ist ein Entschluss nur, wenn ein Mensch so handeln will.”
“Kategorischer Imperativ und die Grundsätze der Aufklärung, ja - und genau an diesem Punkt frage ich mich, wie bringe ich Menschen zum nachdenken, die Angst vor Flüchtlingen haben, sich aufhetzen lassen, andere anzustecken und Hass verspüren?”
“Nicht mit Kräutern.”

An dieser Stelle musste der Förster laut lachen, dachte daran, wie es wäre, wenn sie den Hanfanbau freigäben und die Leute lieber friedlich bekifft wären, statt aggressiv besoffen.

“Naja es gäbe bestimmt Kräuter, die da beruhigend wirken.”
“Menschen werden im Rausch nicht anders oder vernünftiger. Es potenzieren sich nur bestimmte Dinge.”
“Aber wie erreiche ich diese Menschen, wenn es darum geht ihr Inneres zu berühren, was viele ihre Seele nennen?”
“Indem ich echt bin und das tue, was mir entspricht.”
“Was würden sie diesen wütenden Radikalen sagen?”
“Nichts, habe auch damals nicht mit der Meute geredet, hab sie machen lassen und ihnen dann geholfen. Mehr wollte und konnte ich nicht. Der Druck stammte von ihnen, sie hatten nur die Wahl, zu kooperieren oder in den Knast zu gehen, auch wenn viele erstaunlich überzeugt dennoch wirkten, sich zerknirscht gaben, war es falsch.”
“Weil sie es nicht von sich aus wollten? Hätten sie es denn selbst erkannt?”
“Ohne Selbsterkenntnis keine Moral sondern nur dummer Gehorsam. Mit Gehorsam lässt sich alles betreiben und wächst keine Verantwortung.”
“Sie meinen wir waren nicht erfolgreich?”
“Sichtbar, auf die Kräuterweiber folgten die Flüchtlinge.”
“Aber es gab auch die Willkommenskultur.”
“Naive Gegenbewegung aus Scham ohne eigene Gründe als die Dialektik.”
“Meinen sie wie beim Antifaschismus, der oft ähnlich totalitär ist wie seine Gegner?”
“Wenn sie heißes und kaltes Wasser in einen Topf schütten, ist es am Ende lauwarm und gut vermischt, machen sie es mit Feuer und Wasser, wird beides am Ende unbrauchbar sein, weil es sich nicht harmonisch mischt sondern nur kurz und heftig reagiert. Wer die Natur beobachtet, findet viele lehrreiche Beispiele. Extreme zusammen führen selten weiter, als für sich betrachtet, dafür ähneln sich die Dinge an den Polen immer mehr.”

Sie sagte, sie verstünde nichts von Politik und doch schien ihm die Alte mehr von den Dingen zu verstehen als die beiden Lager, die sich ineinander verkeilten.

“Was können wir dann tun?”, fragte sie der Förster mit echter Verzweiflung.
“Nichts, außer zum Denken anregen und das Leben zu genießen”, lachte die Alte ihn gelassen an.
“Wie soll ich genießen, wenn Hetzer die Menschen bis zum Mord treiben?”
“Solange sie leben, finden sich dafür immer Gründe, danach ist es egal.”
“Nichts tun als Antwort auf Ausschreitungen?”
“Geduld ist die erste Tugend in unruhigen Zeiten, um wieder zur Ruhe und zum Gleichgewicht zu finden. Verstehe nichts vom Staat, denke mir dessen Mühlen mahlen langsam. Wenn ich unbedingt ein Kraut finden will, übersehe ich es auf der großen Wiese voller Unruhe eher - wo ich den Dingen ihren Lauf lasse, ergibt es sich und das Bessere setzt sich durch in der Natur, war schon immer ihr Lauf.”
“Dachte es ist das Stärkere, was nach Darwin siegt…”
“Was ist Stärke in der Natur? Reine Kraft, siegt der dumpfe blonde Hüne immer gegen den kleinen aber klugen David, der ihm eine Falle stellt?”
“Intelligenz kann wohl auch eine Stärke sein…”
“Sonst hätten Menschen gegen Elefanten und Wale oder Grizzlys keine Chance.”
“Auf die Zeit vertrauen, statt die Großmäuler fürchten, nicht mit ihnen konkurrieren wollen, sondern auf Intelligenz vertrauen und den Anspruch heben?”
“Schiene mir der menschlichere Weg. Kostet nur Zeit und Ruhe. Dann geht es nicht darum, schnell ein Ziel zu erreichen, sondern in Ruhe zu genießen, was ist.”

Sie kam zum gleichen Ergebnis wie der Mönch des Königs, der auch eher dazu riet, die Dinge laufen zu lassen, bis die Menschen selbst merken, dass sie auf dem Holzweg sind oder wo die Freiheit liegt. Freiheit könne nie unter Zwang vermittelt werden, außer dem Anschein nach.

“Lassen wir die Politik…”, beginnt der Förster etwas zu gönnerhaft.
“Besser so, ich verstehe nichts davon”, schneidet ihm die Alte darum das Wort ab.
“Scheint mir schon so. Wenn es keine Seele gibt, wo sitzt die Verantwortung dann?”
“Die Kartographie ist müßig dachte ich, sie könnte überall sitzen, wo Bewusstsein ist und Menschen Entscheidungen treffen.”
“Nur im Gehirn?”
“Welcher Ort spielt bei bewussten Entscheidungen sonst eine Rolle? Die triebhaften Hormone etwa?”
“Das Herz spielt keine Rolle dabei?”
“Weniger als bei der Liebe vermutlich. Verantwortung ist eine bewusste Entscheidung. Wo das Bewusstsein sitzt, dass uns entscheiden lässt, ist die Moral zuhause. Verstehe aber nichts von Neurologie, kenne nur Kräuter.”
“Wenn ich aus Liebe eine Verantwortung übernehme, dann spielt doch das Gefühl eine große Rolle, oder nicht?”
“Bestimmt auf dem Weg zur Entscheidung, wenn ich aber Verantwortung übernehmen will, warum auch immer, tue ich das bewusst, dazu braucht es, glaube ich hauptsächlich Hirn. Warum die bewusste Liebe nicht im Hirn sitzen soll, habe ich noch nicht verstanden, können sie mir das erklären und was sie sich da denken?”

Der Förster winkte ab, er war ja auch kein Neurologe und hatte keine Ahnung. Und eigentlich dachte er wie sie. 

“Aber ist es wichtig, für eine Entscheidung, wo sie gefällt wird, um sie als moralisch oder nicht zu bewerten?”
“Glaub ich nicht, ich weiß ja vom wo fast nichts und muss auch gar nichts darüber wissen, um moralisch nach meinem Gewissen richtig zu handeln. Gut sein hängt nicht am Ort der Erzeugung.
“Könnten dann auch  Tiere oder Pflanzen ein Bewusstsein haben und moralisch handeln?”
“Steht in keinem Zusammenhang mit der vorigen Antwort, aber klar, warum nicht? Es gibt viele Beispiele aus der Praxis, die es belegen. Wir leugnen es lieber, um uns abzugrenzen, darum meinen einige Vegetarier sie sein moralischer, doch sehe ich in der Natur keinen Grund für diese Unterscheidung.”
“Cogito ergo sum?”
“Descartes ich denke also bin ich, finde ich zu beschränkt - Menschen sind auch noch welche, wenn sie gerade bewusstlos sind oder träumen oder triebhaft nicht mehr denken.”
“Keine Zweifel am Sein?”
“Sicher viele, was weiß ich schon ich altes Kräuterweib? Doch was zählt, außer was mich glücklich macht?”
“Aber die Gewissheit über das Sein, kann es doch nur geben, wenn ich bejahe, dass ich es bin, der denkt.”
“Gewissheit kann auch empfunden werden. Vermute, es braucht Bewusstsein dazu, doch wo sind wir unseres Seins intensiver bewusst, als wo wir tief fühlen?”
“Sie meinen mehr als Denken, auch Fühlen sei mit umfasst vom Sein?”
“Ach sind sie nicht mehr, wenn sie fühlen?”

Die Frage war verblüffend einfach und sie stellte sie mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass er nicht mehr laut lachen musste. Sie sprach nur über die Dinge der Natur, von nichts sonst verstand sie etwas, betonte sie immer und ließ doch ganz nebenbei ganze Welten der Philosophie einstürzen in einfachen Fragen aus der Natur.

“Aber Sein aus Bewusstsein zu begründen scheint ihnen nicht zweifelhaft?”
“Die alte Kritik an Descartes, die schon Kant vorbrachte, ist langweilig, finde ich. Es ist auch die Frage des Höhlengleichnisses, ja. Aber sie ist für mein Glück völlig irrelevant.”
“Was zählt denn dann noch?”
“Es ist für mich nicht wichtig, ob die Welt wirklich so schön ist, so lange sie mir so wunderbar scheint und ich sie genießen kann.”
“Sie machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt?”
“Scheint mir die wichtigste Aufgabe, wenn ich das Leben genießen will. Viel Zeit bleibt ja vermutlich nicht mehr, rein rechnerisch.”
“Woher wissen sie dann, ob sie wirklich glücklich sind?”
“Merken sie nicht, wenn sie glücklich sind?”
“Doch natürlich, aber wenn alles nur eine Illusion wäre?”
“Wäre mir das egal, solange ich glücklich damit bin.”
“Keine Verpflichtung zur Wahrheit als Wissenschaftlerin?”
“Warum lebe ich als einfaches Kräuterweib und habe keinen Lehrstuhl?
“Aber wenn Sein und Illusion im Bewusstsein verschwimmen und ich gar nicht mehr weiß, was ich wirklich bin, wie kann ich dann damit glücklich sein?
“Zweifellos, wenn ich es will.”

Zweifellos hieß ohne jeden Zweifel und diesen hob sie durch den bloßen Willen glücklich zu sein, mit dem was ihr gefiel auf - ein ganz kurzer Satz, stellte alte Psychologie und große Teile der Philosophie völlig auf den Kopf, auch der dialektische Materialismus wurde plötzlich albern.

“Braucht es dazu nicht den anderen, ein Echo, den sozialen Kontakt?”
“Schauen sie mich an, die Eremitin, von der Uni in den Wald - mir fehlt nichts.”
“Und wenn sie morgen sterben und keiner ihre Gedanken kennt?”
“Wenn ich nicht mehr bin, stört mich noch weniger, nämlich nichts mehr.”
“Meinen sie, die Menschen könnten von ihnen lernen, wie mit Gegnern umzugehen ist?”
“Habe ja nichts geleistet, außer zu kommen, der Rest folgte ihrem hilfreich gemeinten Druck - erkennen kann nur, wer es will, moralisch handelt nur, wer es aus sich heraus ist, aus der moralischen Unmündigkeit der Befehlsempfänger, kann sich jeder nur selbst befreien.”

Der Vorwurf saß, er hatte es schon damals ihrem Gesicht angesehen, sie hätte sich lieber Zeit gelassen und sie hatten ihr das Spiel aus der Hand genommen. Er bewunderte sie und wollt es ihr sagen, verunglückte dabei aber leider etwas peinlich.

“Sie sind die erste Frau, die ich kennenlerne, welche so streng logisch und konsequent denkt.”
“Logik hat kein Geschlecht, unser Verhalten miteinander schon. Wir aber begegnen uns nicht als Mann und Frau.”
“Ist das erstrebenswert?”
“Es ist Natur, ich bin zu alt und darum ist es gut so.”
“Kein ewiger Kampf der Geschlechter?”
“Wozu, ich lebe im Wald und bin so frei, wie ich es will.”
“Ist es erstrebenswerter nach der Natur zu leben oder mitten in der Kultur?”
“Wäre das Leben nicht mit weniger Dialektik manchmal harmonischer?”
“Sie meinen, es muss sich nichts ausschließen?”
“Ergänzen ist ein schönes Wort aus der Natur der Sache.”
“Aber was bin ich dann und was zählt?”
“Was weiß ich schon? Solange wir jeweils damit glücklich sind ist mir der Rest egal.”

Und wenn sie nicht gestorben sind, befragt der Förster noch bis heute die Alte nach Gründen und Abgründen des Seins, als wäre es kein Märchen nur, dass Toleranz den Hass durch Vernunft überwinden kann.
jens tuengerthal 6.2.2017

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