Montag, 2. Januar 2017

Gretasophie 005e

005e Zeitkompass

Wie finde ich mich in der Zeit zurecht?

Ein riesiger Urwald an Zahlen erwartet den, der sich mit Geschichte beschäftigt. Von der Steinzeit bis in die Gegenwart tauchen Ereignisse auf und wieder unter - da fragt sich der Betrachter, was zählt überhaupt und was kann ich wieder vergessen, ohne die Orientierung zu verlieren.

Unsere Zeitrechnung ist nach Jesus Geburt ausgerichtet, die als Jahr 0 festgelegt wurde, was immer diese spätere Zeitsetzung mit der Sekte des abtrünnigen Rabbi und seinem Leben noch zu tun hatte. Aus den Berichten seiner Evangelisten wissen wir, es war zu der Zeit als Augustus Kaiser in Rom und Herodes König in Judäa war, der römischen Provinz.

So geschah die Wende der Zeit, nach der wir bis heute rechnen unter der Herrschaft des wichtigsten römischen Kaisers, der auf Julius Cäsar folgte, an dessen Namen schon im Wort Kaiser erinnert wird.

Diese Zeitrechnung ist willkürlich und eine nach fortschreitender Kenntnis der Astronomie erfolgte Zählung. Heute haben wir den gregorianischen Kalender, nach Papst Gregor XIII., der Ende des 16. Jahrhunderts eingeführt wurde. Er löste den julianischen Kalender ab, der von Julius Cäsar, dem Vorfahren jenes Augustus eingeführt wurde etwa um 47 vor unserer Zeitrechnung. Dieser hatte im hellenisch, also griechisch geprägten Alexandria den Kalender mit Schalttagen kennengelernt und im römischen Reich eingeführt. Dieser galt bis teilweise ins 20. Jahrhundert auch noch in allen orthodoxen Teilen Europas, da diese von der Ostkirche geprägt und keinen Papst anerkennend, nicht den exakteren gregorianischen einführen wollten.

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war aufgrund der Ungenauigkeit des julianischen Kalenders die Differenz bereits auf 16 Tage angewachsen, was auch erklärt, warum die Russen eine Oktoberrevolution feierten, die eigentlich im November doch stattfand, nach der genaueren gregorianischen Rechnung. Dennoch wurde der Begriff Oktoberrevolution Sitte und bis heute beibehalten.

Die Art wie wir zählen und ob wir dies einheitlich tun, ist also schon wichtig für die Betrachtung der Zeit. Kleine Verschiebungen, wie die Schalttage alle vier Jahre, die auch irgendwann wieder ausfallen, weil der Lauf der Erde um die Sonne eben nicht ganz glatt ist, sondern mit geringen Abweichungen immer, wirken sich in Jahrhunderten oder Jahrtausenden schnell wochenweise aus und verschieben die Zeit völlig.

Richteten wir die Zeit noch nach der Natur, hätten wir im Winter eine völlig andere Zeit als im Sommer und verschöbe sich der Mittag nach dem Stand der Sonne oder die Nacht nach ihrem Untergang schon in Europa um viele Stunden, was bei internationalen Geschäften und Terminen von großer Bedeutung ist.

Als ich mit dem Zug von Vancouver nach Toronto fuhr, durchquerten wir mehrere Zeitzonen und mussten dann an der Uhr drehen, um wieder die richtige Zeit auch für das Essen im Salon zu haben, auch wenn die Grenze willkürlich erscheint und gezogen, gibt sie doch relativ exakt die Lichtverhältnisse wieder, die sich aber auch nicht nach klaren Grenzlinien verschieben sondern über weite Flächen.

In Jules Vernes Roman in 80 Tagen um die Welt aus dem Jahr 1873, gewinnt der englische Gentleman Phileas Fogg seine Wette in eben 80 Tagen um die Welt reisen zu können, auch wenn er nach seiner Zählung die Zeit um 5 Minuten überschritt und meinte verloren zu haben, weil er gen Osten reiste und dabei die Datumsgrenze überschritt, einen Tag eher kam, als er berechnet hatte und London trotz aller wilden Abenteuer unterwegs pünktlich erreichte. Heraus kommt dieser Irrtum erst, als er seinen Diener Passepartout, der ihn auch auf der ganzen Reise begleitete, zum Pfarrer schickt, um die Hochzeit mit der in Indien noch vom Scheiterhaufen geretteten Schönheit anzumelden, die ihm, der glaubte sein ganzes Vermögen verloren zu haben, dessen eine Hälfte er verwettet hatte, ihre Liebe gestand. Dort erfuhr der Diener, dass noch Samstag und nicht Sonntag sei und so hat der Gentleman seine Wette doch gewonnen und sein Vermögen, das er zur Hälfte für die Reise verbrauchte, wieder im Club gewonnen.

Hier war die Zeit der entscheidende Faktor über Sieg oder Verlust und wäre Phileas Fogg gen Westen gereist, hätte er die Wette wohl verloren, so aber überlistete er die Zeit auf dem östlichen Weg um den Globus und merkte es selbst nicht, gerade weil er als korrekter Gentleman jeden Tag Tagebuch führte und damit richtig gezählt hatte. Was uns schon zu einer Zeit einen Hinweis auf die Relativität der Zeit gab, zu der wir nicht ahnten, was Einstein erst 30 Jahre später erstmals berechnen konnte und woran die Physik bis heute zu knabbern hat.

Natürlich ging es bei Einstein oder später beim Welle-Teilchen-Dualismus und der Quantenrelativität um ganz andere Fragen als die Datumsgrenze und die zufällige Zeitzählung und ihre Festlegung entsprechend der Uhrzeit in Greenwich, mit der Britannien den Standard für die Welt auch mit ihren Weltumseglern, wie Cook und Drake setzte.

Will auch gar nicht vorgeben, ich verstünde etwas von Teilchenphysik und dem Verhalten der Teilchen oder Wellen auf subatomarer Eben oder könnte gar Einsteins e=mc² herleiten, es nur wirklich begreifen. Nichts dergleichen und bin froh, wenn ich Goethe lesen kann, der das Problem viel schöner in meinen Augen mit seinem, oh Augenblick du bist so wunderschön - verweile doch, ausdrückte.

Wie immer wir nach unseren je geistigen Kapazitäten die Sache auch ausdrücken, scheint den Fragen gemein zu sein, dass die Zeit eine relative Größe immer ist und von der Bewegung dessen, der sie misst auch abhängig zu sein.

Wenn aber alles relativ ist und vom Standpunkt des Beobachters abhängt, wird es scheinbar noch schwerer, sich ein taugliches Gerüst für alle Zeiten zu bauen, mit dem zwischen ihnen gesurft werden kann.

Der Angelpunkt unserer Zeitmessung, das behauptete Geburtsjahr des Sektengründers aus Nazareth, scheint uns ein absolutes Maß, solange wir nicht weiter vor diese zurückgehen, als wir jetzt sind. Doch schauen wir uns Höhhlemalereien, die bis zu 30.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung entstanden und frühe kulturelle Betätigung des Menschen zumindest belegen, was immer auch sonst in sie gedeutet werden mag, mit mehr oder weniger gewagten Hypothesen, verschiebt sich dieser angebliche Wendepunkt als eine kleine Randerscheinung weit nach hinten.

Gemessen am Alter des Universums oder der Entfernung mancher Sterne, die wir noch leuchten sehen, auch wenn sie schon vor Millionen Jahren erloschen sind, scheint unsere zeitliche Existenz ein kleiner kaum messbarer Witz ganz am Rand und nicht das Zentrum oder der Höhepunkt der Schöpfung. Schauten wir von bestimmten Planeten auf die Erde, würden wir jetzt Dinosaurier hier sehen, die uns aufgrund der Dauer, die das Licht dorthin braucht, gegenwärtig erschienen.

Weiß nicht woher noch wohin, mich wundert nur, wie glücklich ich bin, schrieb der Dombaumeister Martinus von Biberach angeblich auf einen Buchdeckel, doch wird die Autorenschaft des 1498 in Biberach bei Heilbronn verstorbenen Handwerkers heute bezweifelt, Einige ordnen ihn Kaiser Maximilian I. zu, dem letzten Ritter und Opa von Karl V., andere berichten von weit früheren Klostermalereien. Im Original lautete er:

Ich leb und waiß nit wie lang,
ich stirb und waiß nit wann,
ich far und waiß nit wahin,
mich wundert das ich [so] frölich bin.

Auch die wesentlich ältere Zuschreibung an Walther von der Vogelweide wird heute bestritten. Es ist nicht ganz klar, wo die Weisheit herkommt, die für einen Teil christliche Frömmigkeit ausdrückte, während andere, wie etwa Luther, der sich auch einmal auf die Weisheit bezog, sie ausdrücklich ablehnten, weil gute Christen sehr wohl wüssten, woher sie stammten und wohin sie gingen, was mir die frommen Welterklärer noch unsympathischer machte, als genüge Bruder Martins ekelhafter Antisemitismus nicht schon dazu, ihn, aller Jubiläen zum Trotz, heute lieber zu ignorieren. In manchem drückt sich darin auch der Geist des von den Christen verfemten Epikur und besonders Lukrez aus, der zur Zeit Luthers und des Martinus von Biberach zumindest schon wieder im Umlauf unter einigen Intellektuellen mehr in Italien war.

Trotz ungeklärter Herkunft und unbekannten Alters oder vielleicht auch wegen, ist dieser Spruch ein guter Maßstab für das Wie in der relativen Zeit, denn es scheint weniger wichtig,  was ist, als wie wir uns dazu stellen.

In der Geschichte hängt, wie im Leben eben chaostheoretisch auch, alles mit allem zusammen und so entscheidet eben auch unsere Haltung dazu über unsere Orientierung. Wer der schon erwähnten Zeitachse folgt, hat einen schlichten linearen Rahmen im Kopf, der bei der Orientierung hilft. Doch so wenig Leben immer linear verläuft, so wenig passt dieser blind überall hin, sondern ist nur der Rahmen grober Orientierung.

Vieles verläuft auch kreisförmig oder chaotisch im Leben, wie es uns scheint, dass die Alten den Babys wieder ähnlicher werden und jede Generation irgendwie von ihren Kindern in irgendwas überholt wird. Dennoch hilft eine Zeitachse, die nur einer behaupteten Realität entspricht, sich in der eigenen Beschränkung zu orientieren.

Ereignisse beeinflussen sich wechselseitig, warum ein innerer Kompass, der sich nach der Zeit ausrichtet, in der wir uns gerade befinden, am besten passt. Wagen wir die Expedition durch die Zeit und orientieren wir uns dabei ruhig am schlichten Zeiger, der nur sagt, wo Norden ist, wie ein simpler Zeitstrahl, auch wenn dieser nichts über die Relativität der Zeit sagt, noch vom verweilenden Augenblick aus dem Sturm und Drang schwärmt. Es ist gut, eine einfache und lineare Orientierung sich im Chaos der Zeiten, die auch ineinandergreifen, zu stricken.

Warum es sich nicht einfach machen, wenn möglich, um zu verstehen, was um uns ist und vor uns war, wenn es hilft und funktioniert?

Weiß nicht, ob diese Krücke, die weniger der Realität als meinem beschränkten Vorstellungsvermögen entspricht, für jeden geeignet ist, mir zumindest in meiner Einfalt, war sie immer eine gute Orientierung. Es mag sein, dass die Zeit relativ ist und nichts wirklich linear - doch kann ich die gebogene Zeit kaum denken, geschweige denn klug darüber schreiben, warum ich lieber die einfachen Muster zur Hand nehme, die meinen Vorstellungen von Zeit am ehesten entsprechen, damit ich weniger dumm erscheinen kann, als ich es vermutlich bin, was zwar auch eine Krücke und eine Täuschung ist, aber wenn, dann zumindest eine, die mein Wohlbefinden mehrt und wie wirklich ist schon die Wirklichkeit im Lauf der Zeit und was hilft, ist gut, sagte mein Vater immer.
jens tuengerthal 2.1.2016

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen